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Die Zukunft der Mobilität im öffentlichen Nahverkehr: Ein Interview mit Andreas Thun

Experteneinblicke von Andreas Thun, dem ehemaligen Geschäftsführer von iris

Die Zukunft der Mobilität im öffentlichen Nahverkehr: Ein Interview mit Andreas Thun

Die Zukunft der Mobilität im ÖPNV

Experteneinblicke von Andreas Thun, dem ehemaligen Geschäftsführer von iris

Andreas Thun

Andreas Thun, Jahrgang 1955, studierte Ingenieurwissenschaften an der Technischen Universität Dresden und spezialisierte sich in den 1980er Jahren auf Infrarotsensoren, bevor er 1991 die iris-GmbH mitgründete. Das ursprüngliche Team aus zehn Mitarbeitern erkannte das Potenzial dieser Technologie zum Zählen von Personen und machte den öffentlichen Nahverkehr schnell als interessantes Markt- und Einsatzgebiet für Infrarotsensoren aus. Die Nachfrage nach Systemen zur automatischen Fahrgastzählung (AFZ) im ÖPNV zeigt sich darin, dass iris mittlerweile rund 140 Mitarbeiter beschäftigt.

Andreas Thun hat seine operative Position als Geschäftsführer im September 2020 aufgegeben, um sich Beratungsdiensten und längerfristigen Forschungsprojekten zu widmen – und damit sein Wissen aus 30 Jahren Erfahrung an die nächste Generation weiterzugeben. Aus diesem Grund ist dies der wohl perfekte Zeitpunkt, um ihn nach seiner Vision für die Zukunft der Mobilität zu fragen.

Fangen wir doch gleich beim Stichwort „Generationen“ an: Wie sehen Sie die technologische Entwicklung über die letzten drei Jahrzehnte gemessen am aktuellen Stand? Und was wird die nähere Zukunft Ihrer Ansicht nach bringen?

Das ist natürlich ein weites Feld, aber es ist im Verlauf des technologischen Fortschritts immer eine Art Linearität zu erkennen, wie ich es nenne. Ein Schritt führt zum nächsten und so weiter. Und dann gibt es qualitative Sprünge, die zu branchenweiten Grundsatzdiskussionen führen. Im Bereich des ÖPNV erleben wir so einen Sprung derzeit mit der Entwicklung autonomer Fahrzeuge, was nun für schon drei Jahre Mittelpunkt vieler Diskussionen ist. Verfolgt man diese Entwicklung in den Medien, so wurde der anfängliche Optimismus in letzter Zeit etwas gedämpft – was typisch für technische Debatten ist. Auf die Euphorie zu Beginn folgen technische Schwierigkeiten, gesellschaftlicher Widerstand, rechtliche Probleme usw. Ich verweise an der Stelle gern auf das Beispiel des Flachbild-Fernsehers: Wir haben schon in den 1980er Jahren davon geträumt, Fernseher an die Wand zu hängen, aber es dauerte 30 Jahre, damit aus diesem Traum Realität wurde.

Das ist wahr. Und was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Handlungsfelder für die urbane Mobilität der Zukunft?

Die Frage ist, was passiert, wenn die Automatisierung des ÖPNV, die ich gerade erwähnt habe, Wirklichkeit wird. Es braucht immer länger, als man glaubt oder auch hofft, aber es wird irgendwann passieren. Die Entwicklung autonomer Fahrzeuge findet auf zwei Ebenen statt, oder besser auf zwei Wegen: der erste wird stark von der Automobilindustrie forciert, der zweite ist der, den die öffentlichen Verkehrsbetriebe gehen. Ein großmaßstäbiger Personennahverkehr ist und bleibt unverzichtbar in Städten, es sei denn, es gelingt, die urbane Struktur zu verändern. Das ist zwar denkbar, aber natürlich schwieriger. Und es würde länger dauern. Nichtsdestotrotz hängen Mobilität und urbane Struktur miteinander zusammen. Nehmen wir zum Beispiel die Änderungen, die sich im vergangenen Jahr aufgrund der Covid-19-Pandemie ergeben haben: Die meisten Menschen müssen nicht mehr zur Arbeit fahren. Das wirkt sich auf die Mobilität aus. Das ist ein sehr interessanter Aspekt, der diskutiert werden sollte, vor allem im Zusammenhang mit künftigen Investitionen in den ÖPNV.

Ein gutes Argument. Normalerweise würden wir dieses Gespräch in Ihrem Büro führen, aber heute – dank digitaler Technologie – sprechen wir per Videocall.

Ja, und es funktioniert gut. Aber im Zusammenhang mit Mobilität sprechen wir nicht nur über Städte und Stadtgebiete: Wir dürfen den ländlichen Raum nicht vergessen, wo eine Automatisierung (wie selbstfahrende Busse) gleich eine Reihe von Vorteilen mit sich bringen würde. Nicht jeder kann oder möchte Auto fahren und es liegt in der Verantwortung der Verkehrsbetriebe, auch diesen Menschen Mobilität zu ermöglichen.

Ein weiteres Beispiel für die Digitalisierung in diesem Zusammenhang ist der Güterverkehr. Ich denke, dass es für die Verkehrsbetriebe ländlicher Gebiete sinnvoll wäre, auch Güter zu liefern. Erste Modellversuche dazu laufen bereits. Der Personennahverkehr hat klar definierte Stoßzeiten, die den Arbeitszeiten entsprechen. In den Zwischenzeiten könnte man mit denselben Fahrzeugen Güter transportieren.

Die Idee, in der Nacht alles Mögliche mit der Berliner U-Bahn zu transportieren, wurde schon sehr häufig diskutiert …

Das ist richtig. Es ist eine Frage der Rentabilität. Aber die weiter steigende Anzahl von Paketen aufgrund von Onlineshopping spricht für sich. Das alles sind Aspekte, die zusammengebracht werden müssen, aber derzeit getrennt voneinander betrachtet werden. Einerseits haben wir Logistikunternehmen und andererseits Verkehrsbetriebe: zwei Dinge, die nicht wirklich miteinander verknüpft sind.

Welche Rolle können intelligente Verkehrssysteme (IVS) bei der Zusammenführung spielen?

Eine gute Frage. Ich glaube, dass sie die Voraussetzung für die Verknüpfung dieser Bereiche sind. Wenn man so will, sind beide – ÖPNV und Gütertransport –bereits digitalisiert. Prinzipiell können Fahrgäste den aktuellen Status des Verkehrsnetzes in Echtzeit mit ihren Smartphones abrufen. Dieses Problem wurde also gelöst. Dasselbe gilt für den Logistikbereich: Kunden können ihre Pakete in Echtzeit verfolgen. Die Technologie ist schon im Einsatz. So gesehen könnten beide miteinander verknüpft werden. Aber es handelt sich um verschiedene Branchensektoren. Es ist kein technisches Problem, sondern ein organisatorisches. Die Logistik ist ein Privatsektor, während die Verkehrsbetriebe normalerweise in kommunaler oder regionaler Hand liegen. Das Problem liegt also in der Frage, wie man diese Grenzen überwindet – und eine sehr tragfähige Option ist eine digitale Schnittstelle.

Das leuchtet ein. Aber welche neuen Daten und Technologien benötigen wir, um eine Zukunft zu gestalten, wie Sie sie gerade beschreiben?

Ich denke, dass die Technologie bereits verfügbar ist, und die Datenübertragung ist auch kein Problem mehr. Die Erhöhung der Bandbreite ist ein technisches Problem, das aber gelöst werden wird. Ich sehe eher Probleme auf juristischer oder gesellschaftlicher Ebene – nämlich bei der Frage: Wem gehören die Daten? Das ist die aktuelle Debatte, und sie ist noch weit davon entfernt, abgeschlossen zu werden. Habe ich Zugang zu meinen eigenen Daten? Wer kann meine Daten auswerten? Können Unternehmen meine Daten für ihre Geschäftsmodelle nutzen? Dann ist da auch die Problematik der Datensicherheit: Wer garantiert, dass meine Daten nicht manipuliert werden?

Auch diese Fragen sind mit dem Thema Mobilität verbunden. Wenn Fahrzeuge automatisiert werden, dann gibt es auch immer eine Möglichkeit für einen Fernzugriff. Es muss also unbedingt einen Schutz gegen Hackerangriffe geben. Aber diese Probleme sind allgemein bekannt und werden gelöst werden. In größeren Netzwerken wird das länger dauern, aber der Punkt wird kommen. Vielleicht dauert es 5, 10 oder 15 Jahre, denn immerhin müssen auch Verwaltungsaspekte gelöst werden, aber autonome Fahrzeuge werden zum Einsatz kommen.

Und an welcher Stelle passt die AFZ in diesen Datenfluss?

Man muss bedenken, dass damals in den 1990er Jahren, als wir angefangen haben, die automatische Fahrgastzählung ziemlich neu und unbekannt war. Heute ist es Branchenstandard. Wir gehen davon aus, dass alle größeren, modernen Verkehrsbetriebe diese Technologie nutzen. Einige Betriebsgesellschaften, zum Beispiel hier im deutschsprachigen Raum, nutzen sie, um die Einnahmen zwischen miteinander verbundenen Verkehrsnetzen aufzuteilen. In den USA hingegen wird sie genutzt, um der Federal Transit Administration, also der obersten Behörde für den öffentlichen Verkehr, Statistiken zu liefern. Aber wenn wir einen Blick in die Zukunft werfen …

… was ja auch der Grund für unser Gespräch ist …

… dann sieht man schon einen Wandel weg von der rein statistischen Nutzung hin zur Echtzeitverarbeitung. Dabei kann es um aktuelle Informationen zur Auslastung gehen, die dann von den Betriebsgesellschaften zur Steuerung des Fuhrparks genutzt werden. Das ist eine weitere neue Entwicklung während der Pandemie, die daraus folgt, dass die Verkehrsbetriebe die Auslastung unter einem bestimmten Niveau halten müssen, die aber auch für die Fahrgäste von Vorteil ist: Sie können damit entscheiden, ob sie auf ein anderes Fahrzeug warten, wenn das ankommende zu voll ist. 

Zudem kann man feststellen, dass der öffentliche Nahverkehr immer individueller wird. Die Daten werden zunehmend für Prognosen genutzt, indem statistische Werte um Echtzeitdaten ergänzt werden, um zum Beispiel die Fahrgastzahlen für mehrere Haltestellen einer Linie zu schätzen oder um den am Bahnsteig wartenden Fahrgästen im Voraus mitzuteilen, welche Wagen weniger voll sind. Für die Betriebsgesellschaften könnte dies erhebliche Einsparungen bei gleichbleibender Effizienz bedeuten, da weniger Züge benötigt werden. Zusätzlich könnten auch Personen mit Mobilitätseinschränkungen in Bussen und Bahnen leichter zusteigen, in dem Wissen, dass es freie Sitzplätze gibt. Es gibt zwar schon einige interessante Pilotversuche, aber für die Verfügbarkeit von Fahrgastdaten in Echtzeit gibt es noch enorme bisher ungenutzte Anwendungsmöglichkeiten.

Wenn wir die Idee ein wenig weiterführen, dann sehe ich die Systeme zur automatischen Fahrgastzählung als Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine. Ein AFZ-System „sieht“, dass dort ein Mensch ist, und gibt diese Information an die Maschine weiter. Das könnte dann zum Beispiel im Bereich rund um die Tür zum Einsatz kommen: Dem Fahrer würde signalisiert werden, die Tür nicht zu schließen. So lassen sich Komfort und Sicherheit für die Fahrgäste erhöhen, was ein immer wichtigerer Aspekt im Automatisierungsprozess ist.

Nehmen wir zum Beispiel autonome Busse. Was passiert, wenn jemand im Bus die Beherrschung verliert oder rumpöbelt, während weitere Fahrgäste an Bord sind, aber weder Busfahrer noch andere Autoritätspersonen? Das subjektive Sicherheitsgefühl nimmt dadurch ab. Noch ein weiteres Beispiel: Man rennt zum Bus und winkt dem Fahrer, damit dieser noch wartet. Wie würde ein autonomes Fahrzeug wohl reagieren? Würde es zurückwinken? Diese Fragen sind den Entwicklern selbstfahrender Autos natürlich egal. Sie sind aber extrem wichtig für die öffentlichen Verkehrsbetriebe.

Und sehen Sie das als Herausforderung oder als Möglichkeit für die Sensortechnologie?

Für mich ist es beides. Als Ingenieur ist es aufregend, weil es schwierig ist – eine Herausforderung, aber eine, die sich bewältigen lässt. Für Firmen wie iris an der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine ist das eine sehr spannende Aufgabe. Wir verfolgen diese Entwicklungen und die aufgeworfenen Fragen, und ich denke, dass wir sie lösen können. Das müssen wir sogar, wenn wir zur Akzeptanz autonomer Fahrzeuge beitragen wollen. Denn diese müssen auf Menschen reagieren und mit ihnen zusammenarbeiten.

Genau, die Fahrgäste müssen sich zumindest sicher fühlen und dürfen nicht das Gefühl bekommen, hilflos irgendeiner großen Maschine ausgeliefert zu sein.

Das ist richtig, und es entspricht dem Trend der westlichen Welt, das Individuum ins Zentrum zu stellen. Mit unseren Kollegen aus dem asiatischen Raum führen dahingehend viele Debatten. China verfolgt nämlich einen anderen Ansatz. Wir sitzen hier derzeit in der U-Bahn alle in einer Reihe. Es gibt aber Designvarianten, bei denen Fahrgäste auf eigenen Sesseln sitzen – auch im stark frequentierten öffentlichen Nahverkehr. Komfort ist mehr als nur eine App. Wir bei iris leisten einen kleinen Beitrag dazu, denn unsere Technologie ist Teil des Fahrzeugdesigns.

Vor welchen Herausforderungen stehen AFZ-Systeme?

Nun, das betrifft alles immer noch den Sicherheitsaspekt. Die Digitalisierung erschafft ihr ganz eigenes Problem, weil sie die Manipulation von Daten ermöglicht. Das gilt auch für den Bereich der Mobilität. Vor einigen Jahren wurde einmal der Prototyp eines autonomen Autos gehackt, darauf wurden die Bremsen fernausgelöst. Einen vernetzten Bus kann man als Einstiegsfenster in ein größeres Netzwerk nutzen. Als Hersteller von AFZ-Systemen sind wir uns dieses Problems bewusst.

AFZ-Systeme eröffnen aber auch neue Anwendungsgebiete. So könnte man mit AFZ-Systemen nicht nur Fahrgäste zählen, sondern beispielsweise auch sehen, wohin sie fahren, und prüfen, ob das Fahrzeug auf sie warten sollte. Die Technologie, die wir heute haben, sollte als Startpunkt für künftige Entwicklungen gesehen werden.

Eine letzte Frage: Welchen persönlichen Wunsch haben Sie für die Zukunft des ÖPNV?

Ich persönlich sehe da, wie schon erwähnt, die Automatisierung. Ich würde gern mehr solcher Services am Rand von Städten wie z. B. Berlin sehen. Im Moment ist das ein unrentables Gebiet, sodass dieser Bereich unterversorgt ist. Wenn man beispielsweise spätabends an der Endstation einer S-Bahn-Linie ankommt, muss man den Rest seines Weges mit dem Taxi zurücklegen, weil kein Bus mehr fährt. Das kostet dann definitiv mehr als 2,80 Euro, die man sonst für die normale Fahrkarte bezahlt. Ich denke, autonome Busse wären hier eine großartige Lösung, nicht nur für Berlin, sondern für alle Städte mit Wohngebieten in den Außenbezirken und am Stadtrand.

Dabei geht es auch um intermodalen Verkehr, wenn die Fahrt nahtlos weitergehen soll.

Richtig. Andernfalls haben die Menschen keine Lust auf den ÖPNV und nehmen lieber gleich das Auto. Die ÖPNV-Betriebsgesellschaften stehen also in direkter Konkurrenz zu den individuellen Transportmöglichkeiten und auch zu Vermittlungsdienstleistern für die Personenbeförderung (wie Uber und Lyft) und Carsharing-Anbietern. IVS und AFZ-Systeme spielen eine große Rolle dabei, Fahrtzeiten zu verkürzen und den Komfort der Fahrgäste zu erhöhen.

Vielen Dank für das hochinteressante Gespräch, Herr Thun.

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